Digital Publishing Trends 2021: Das sagen die Profis des Nieman Journalism Lab

Gegenwart und Zukunft des Journalismus sind digital: von der lokalen Nische bis zum großen Nachrichtenblatt. Welche Innovationen erwarten uns 2021?
Das Nieman Journalism Lab befasst sich mit der Zukunft des Journalismus. Zum Jahresstart fragt es Branchen-Vorreiter nach den Aussichten für die nächsten zwölf Monate: Wie geht es mit digitalem Journalismus weiter? Welche Technologien und Trends werden wichtig? Wie verändern sich Geschäftsmodelle?
Besonders interessante Perspektiven und neue digitale Entwicklungen haben wir für Sie in diesem Artikel zusammengefasst. Eines vorab: Für Verleger und Publisher bieten sich speziell online viele Chancen.
Kostenloskultur weicht Bezahlmentalität
Dass die New York Times Abos verkaufen kann, wissen wir. Doch was ist mit den Verlagen und Publishern, die nicht in der Top-Liga unterwegs sind?
Delia Cai, Herausgeberin des Mediennewsletters „Deez Links“, erwartet einen Aufschwung bei Bezahlinhalten, der alle Publisher erreicht. Die Kostenlosmentalität im Netz weiche nach und nach einer höheren Bezahlbereitschaft für gute Inhalte.
Plattformen wie Substack seien in der Vorreiterrolle: Einige Solo-Publisher würden bereits sechsstellige Umsätze über Abos verzeichnen.
Der kulturelle Wandel von der Kostenloskultur zur Bezahlmentalität wird auch jenen Publishern zugutekommen, die irgendwo zwischen bekannten Influencern und der New York Times stehen, vermutet Cai. Viele neue US-Medienseiten, sie nennt unter anderem „Defector“ als Beispiel, würden das Bezahlmodell von Anfang an mitdenken und so eine entsprechende Mentalität stärken.
„Was für eine Erleichterung, dass sich die Leute endlich wohlfühlen - sogar bereit sind - für relevanten und qualitativ hochwertigen Journalismus zu zahlen, vor allem, wenn er eine Nische abdeckt, die nirgendwo anders gefüllt werden kann, vor allem, wenn er einen angenehmen Tonfall hat und gut lesbar im Posteingang auftaucht wie die E-Mail eines guten Freundes“, sagt Cai.
>> Subscriptions start working for the middle, Delia Cai
Tschüss, Bildschirm!
Wenn der Inhalt den flachen Bildschirm verlässt und dreidimensional im Raum schwebt, nennt man das „Spatial Computing“. Für Raymond Soto, verantwortlich für neue Technologien im USA Today Network, ist die neue 3D-Darstellungsform das nächste große Ding - und bereits Realität.
Virtual Reality, Augmented Reality oder Spatial Audio ermöglichen laut Soto durch "immersives Storytelling" den nächsten Schritt hin zu interaktiver Berichterstattung: einprägsame 3D-Datenvisualisierungen mit Smartphone-AR, Podcasts, die mit Raumklang den Erzählraum erweitern oder eine Demonstration, bei der man sich mit dem 360-Grad VR-Blick einen eigenen Eindruck vom Protestmarsch verschafft.
Schnelle 5G-Netze und neue Smartphone-Technologien wie der Lidar 3D-Scanner im aktuellen iPhone 12 Pro seien die Grundlage für die neuen interaktiven Erzählformate: „Selbst Durchschnittsnutzer kommen immer besser mit der Technik zurecht und erwarten Inhalte, die alle Möglichkeiten ausschöpfen“, sagt der Innovationsmanager.
Gerade der 3D-Scanner in aktuellen und kommenden iPhones könnte sich als Gamechanger in der Berichterstattung erweisen. Neben Fotos könnten Journalisten 3D-Scans von für die Story relevanten Orten publizieren, die das Publikum dann mit AR und VR in Originalgröße und 3D betrachten oder sogar begehen kann. Hochwertige 3D-Scans lassen sich innerhalb von Minuten anfertigen.
Raymond Soto jedenfalls geht davon aus, dass 2021 Medienorganisationen crossmediale Teams mit Technologie- und Journalismus-Know-how formen, die das immersive Storytelling voranbringen. Diese Arbeitsproben sollen der Branche den Weg in die Zukunft weisen.
Die von Soto versprochene Orientierung ist notwendig. Interessante journalistische Experimente mit VR und AR gibt es seit Jahren. Bislang stecken beide Darstellungsformen allerdings technisch und inhaltlich noch in den Kinderschuhen. Das liegt auch daran, dass die Weiterentwicklung und Adaption bei VR und AR nicht so schnell läuft, wie es anfangs prognostiziert wurde.
Die gute Nachricht: Das Interesse an VR und AR seitens großer Player wie Facebook, Apple und Google ist ungebrochen und es fließen nach wie vor Milliarden in die Entwicklung.
Auch bei Netcetera sehen wir weiter Potenzial in immersiven Interfaces für Journalismus und die Industrie und gehen diesem zum Beispiel gemeinsam mit dem Ringier Verlag oder der Entwicklungsplattform AR Studio nach.
>> The news get spatial, Raymond Soto
Personalisierte News zum Verlieben
Im Science-Fiction-Film „Her“ verliebt sich Joaquin Phoenix Hals über Kopf in die KI-Stimme Samantha. Weshalb? Sie liefert ihm jederzeit genau die Informationen und Worte, die er gerade in seinem Leben braucht – einfach unwiderstehlich. Wenn sich Renée Kaplans Prognose erfüllt, dann verlieben sich Nutzer bald auf ähnliche Art in journalistische Inhalte.
Kaplan ist Leiterin der Digitalentwicklung bei der Financial Times. Sie sagt: Personalisierte Inhalte sind die Zukunft der Branche. Personalisierung soll mittels KI-Unterstützung noch umfassender, schneller und grundlegender werden.
Verlage müssten ihre Nutzer ganzheitlich betrachten: „Wir wollen mit möglichst vielen Daten den Tag unserer Nutzer verstehen, ihre Verhaltensänderungen übers Jahr, ihre Wochenenden, ihre beruflichen Ambitionen, ihre Familien, ihre Urlaube – damit wir wissen, welche Themen in welchen Formaten auf welchen Geräten wir für ihre Bedürfnisse priorisieren müssen: vom Audio-Briefing am Morgen über eine kurze E-Mail-Zusammenfassung mit Textlinks am Samstag bis hin zu einer angepasste Desktop-Webseite während der Arbeitszeit“, sagt Kaplan.
Verlage müssten ihre Inhalte noch dynamischer denken und für fließende Übergänge zwischen den Formaten sorgen, um im Alltag der Nutzer weiter eine Rolle zu spielen. Die Konkurrenz durch andere Content-Angebote und Apps sei stark.
„Die Zukunft der Nachrichtenmedien ist eine, in der wir mehr liefern als das, wofür die Abonnenten glauben, dass sie bezahlt haben“, sagt Kaplan.
>> Falling in love with your subscription, Renée Kaplan
Von der Fragmentierung zur Konsolidierung: 2021 wird „das Jahr der Veränderung“
Die Pandemie hat weltweit die Digitalisierung beschleunigt. Auch Verlage sind digitaler, agiler und flexibler geworden, sagt David Skok, der das digitale Innovationsportal „The Logic“ betreibt.
„Ob bei der Redaktionsplanung und Themenverteilung, der internen Kommunikation oder der Berichterstattung: Redaktionen mussten in Echtzeit für Innovationen sorgen, und als Ergebnis werden diejenigen, die die Pandemie überleben, agiler und innovativer denn je sein“, sagt Skok.
Der Digitalverleger vermutet unerschlossenes Finanzpotenzial speziell bei Investoren: Private-Equity-Unternehmen hätten über Jahre Billionen US-Dollar auf die Seite geschafft und suchten jetzt neue Investitionschancen. Verlage, die einen Teil des Kapitals für das eigene Wachstum gewinnen könnten, stehen laut Skok auf der Gewinnerseite.
Die aktuelle Medienlandschaft beschreibt Skok als „massiv fragmentiert“. Doch Technologie böte die Chance, zwischen Modularität und Interdependenz zu wechseln. Als Beispiel für diese These nennt er die Hype-Plattform Substack, auf der kleine und große Publisher leicht bezahlte Newsletter anbieten und Abonnenten gewinnen könnten. Neue Abo-Modelle bei Substack könnten beispielsweise dafür sorgen, dass sich mehrere Nischenpublikationen zusammenschließen und gemeinsam wachsen.
Skok erwartet in jedem Fall „ein Jahr der Veränderung“ und eine Konsolidierungswelle in der Medienbranche. Publisher, die während der Pandemie innovativ waren, seien jetzt liquide und würden sich auf eine Welt nach der Pandemie vorbereiten. „Schnallen Sie sich an“, sagt Skok.
Eine Innovationschance für Verlage ist die moderne Publishing-Infrastruktur aus der Cloud. „Jeder von uns ist darauf angewiesen, dass er in seiner individuellen digitalen Transformation die passenden Technologien bekommt“, sagt Andreas Bossecker, Technologiechef der NZZ. Er fordert Prozesse und Systeme „für die nächste Generation des Publishings“.
>> A pandemic-prompted wave of consolidation, David Skok
Journalism as a service: Erfolgreiche Publisher lösen Leser-Probleme
Rund 20 Stunden pro Woche moderiert die Journalistin Nico Gendron die Kommentare des Wall Street Journal. Dabei formte sie ein neues Verständnis für ihre Arbeit: Journalismus sei im Kern ein Service-Produkt. Und Produkte bräuchten die Unterstützung der Nutzer und deren direktes Feedback, um besser zu werden.
Newsrooms sollten daher kollaborativ agieren und sich stärker an Leser, Abonnenten und Follower wenden und deren Feedback direkt in Handlung umsetzen. Der Journalismus solle sich ein Beispiel an der Tech-Industrie nehmen, die intensiv mit ihren Nutzern kooperiere.
Das publizistische Ziel lautet: Probleme der Zielgruppe lösen, anstatt nur über sie zu berichten. Für diesen Feedback-Kreislauf müssten Verlage Community Manager als Brücke zwischen Newsroom und Community installieren, sagt Gendron.
Das neue Digitalmagazin "WSJ Noted“ des Wall Street Journal hat sich diese Strategie laut Gendron zu eigen gemacht und bei Linkedin die Gruppe „The WSJ Noted Adviser Network“ gegründet: ein digitaler Treffpunkt für Studierende und junge Berufseinsteiger, passend zur Zielgruppe des Magazins.
Rund 200 ausgewählte Berater und Beraterinnen sind in der Gruppe aktiv und nehmen dort Einfluss auf die Berichterstattung von WSJ Noted. Themenideen würden meist aus Fragen entspringen, die die Zielgruppe grundlegend bewegen. Die Linkedin-Gruppe hat schon mehr als 47.000 Follower.
>> Ask your readers to help build your products, Nico Gendron
Lokale Nachrichtenanbieter beweisen ihren Wert in der Krise
John Garrett ist Gründer und CEO von „Impact News“, eine Print- und Online-Publikation für Einheimische in Texas, Arizona und Tennessee. Die Corona-Krise habe den Wert lokaler Nachrichten unterstrichen, sagt Garrett. Für 2021 erwartet er „wirklich gute Geschäfte“.
„Lokale News sind eine Branche, die durch die Pandemie nicht gestört wurde. Im Gegenteil: Die Pandemie hat den Bedarf für lokalen Journalismus deutlich gemacht“, sagt Garrett. Er prognostiziert: „Die lokalen Nachrichtenanbieter werden von den neuen Beziehungen profitieren, die zwischen ihnen und Einheimischen entstanden sind.“
Wenn Nachrichtenanbieter diese Beziehungschance ergreifen und ihren „enormen Wert“ für ihre Region unter Beweis stellen, würden die Umsätze in allen Kanälen steigen – bis hin zu den Werbeerlösen im klassischen Printformat. Eine effiziente „Create Once, Publish Everywhere“-Strategie hilft Verlagen bei der Umsatzsteigerung.
>> A surprisingly good year, John Garrett
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